„Das ist doch ein klarer Fall von Notwehr“, sagen Außenstehende. „Nein, ist es nicht“, befindet das Gericht. Nicht jede Verteidigung oder Gegenwehr ist im strafrechtlichen Sinne Notwehr. Und schon gar nicht rechtfertigt sie alle Maßnahmen. Aber wann und wie dürfen Sie sich verteidigen und die Straffreiheit des „Notwehr-Paragrafen“ § 32 des Strafgesetzbuches (StGB) für sich in Anspruch nehmen? Als Inhaber der Kanzlei Leonhard Graßmann und Anwalt für Strafrecht in München gebe ich Ihnen hier einen Überblick über die strafrechtlichen Regelungen zu Ihrem Recht auf Notwehr – und rate Ihnen dringend, im konkreten Fall unbedingt sofort einen fachkompetenten Anwalt zu kontaktieren, um auch das Gericht von Ihrer Notwehrlage zu überzeugen.
§ 32 StGB: erforderliche Verteidigung in einer Notwehrlage
Der § 32 StGB stellt Notwehr grundsätzlich nicht unter Strafe. Dabei versteht er unter dem Begriff „Notwehr“ eine erforderliche Verteidigung, die dazu dient, einen „gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff“ abzuwenden. Und zwar von sich selbst oder anderen. Der Angriff muss sich dabei nicht nur auf Ihre körperliche Unversehrtheit beziehen, er kann sich auch gegen Ihre Ehre (durch Beleidigung) oder Ihr Eigentum (durch Diebstahl) – bzw. dieselben Rechtsgüter Dritter – richten. Wichtigste Voraussetzung für den Tatbestand der Notwehr ist die Notwehrlage – das heißt: die „Gegenwärtigkeit“ des Angriffs.
Der zeitliche Rahmen für die Verteidigung
Für die praktische Rechtsprechung ist ein Angriff dann gegenwärtig, wenn er direkt bevorsteht, aktuell existent ist oder noch fortdauert. Das ist sozusagen der zeitliche Rahmen, in dem eine Notwehrlage unterstellt wird. Die Gerichte prüfen in der Regel sehr genau, ob die eigene Verteidigung in diesem Zeitfenster stattgefunden hat. Wer beispielsweise einen bereits am Boden liegenden Angreifer noch tritt, dem flüchtenden Dieb hinterher rennt und ihm auf den Kopf schlägt oder dem schon gestellten Einbrecher zusätzlich körperlichen Schaden zufügt, kann sich nicht auf das Notwehrrecht berufen.
Es gibt keine Verpflichtung zu Flucht
Was bedeutet nun „erforderliche Verteidigung“? Grundsätzlich gilt: Wer Ziel eines Angriffs geworden ist, darf sich in der konkreten Situation so verteidigen, wie er denkt, die Gefahr am besten abwenden oder zumindest mildern zu können. Der Angegriffene muss sich nicht überlegen, ob seine Verteidigungsmaßnahme eventuell zu grob oder zu heftig für den Verursacher ist – obwohl die Rechtsprechung prinzipiell verlangt, von eventuell mehreren verfügbaren Verteidigungsmitteln stets zunächst das „mildeste“ zu verwenden. Eine Verpflichtung, einfach zu flüchten, gibt es übrigens nicht. Sie (der/die im Recht ist) müssen Ihrem Angreifer (der im Unrecht ist) nicht das Feld überlassen. Wenn Sie vor Gericht die aus Ihrer Sicht „angemessene“ Verteidigung begründen sollen, besprechen Sie sich unbedingt zuvor mit einem spezialisierten Rechtsanwalt – auch um eine mögliche Klage wegen Körperverletzung abzuwenden.
Grenzen des Rechts auf Notwehr
Das Recht auf Verteidigung beziehungsweise auf freie Wahl der Mittel findet seine Grenzen, wenn der Angreifer erkennbar schwächer oder durch andere Umstände gehandicapt ist. Dies gilt bei Bagatell-Attacken durch:
- Kinder
- Ältere und/oder behinderte Menschen
- Geistig verwirrte Menschen
- Betrunkene
Bis vor Kurzem galt diese Einschränkung auch für Familienangehörige und Ehepartner. Die Rechtsprechung hat diese Sonderstellung durch eindeutige Urteile in Fällen von häuslicher Gewalt allerdings weitgehend aufgehoben.
Bei extrem übertriebenen Verteidigungsmaßnahmen können Sie in aller Regel nicht mit einer gerichtlichen Billigung rechnen. Hier entscheidet die Verhältnismäßigkeit – und die Vergleichbarkeit der zu schützenden Rechtsgüter. Werden Sie als Frau von einem körperlich überlegenen Mann angegriffen, dürfen Sie sich notfalls auch mit einem Messer verteidigen und den Tod des Angreifers in Kauf nehmen. Erwischen Sie dagegen nachts einen bereits flüchtenden Dieb in Ihrem Haus und erschießen ihn, überschreiten Sie die Grenzen der Notwehr.
Ein klarer Notwehrwille ist erforderlich
Der Tatbestand der Notwehr erfordert schließlich einen zielgerichteten „Willen zur Verteidigung“. Sie müssen in einer Notwehrsituation also ausschließlich sich selbst (oder jemanden anderen) schützen wollen – und dürfen nicht etwa die Lage dazu nutzen, um es dem verhassten Nachbarn/Rivalen endlich einmal zu zeigen.
Als erfahrener Inhaber der Kanzlei Leonhard Graßmann kann ich Ihnen nur raten, in jedem Fall von Notwehr sicherheitshalber einen Anwalt mit ausgewiesener Expertise im Strafrecht einzuschalten. Nur ein fachkundiger Anwalt kann Sie vor ungerechtfertigten Klagen bewahren und Sie schützen, wenn sie womöglich die Grenzen der Notwehr aus Furcht, Verwirrung oder Schrecken überschritten haben.
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